Invincible1958 hat geschrieben: ↑Donnerstag 18. Juni 2020, 23:18
Leben wir in einer Gesellschaft, wo eine Gefahr nur eine Gefahr ist, wenn sie auf Seite 1 der überregionalen Zeitungen und auf der Startseite der Online-Medien thematisiert wird?
Natürlich ist eine Gefahr auch dann eine Gefahr, wenn die Menschen nichts darüber wissen. Schließlich haben Seuchen jahrtausendelang Opfer gefordert, auch als man noch gar nicht verstanden hatte, was Krankheitserreger sind.
Der Unterschied ist nicht, ob die Gefahr existiert oder nicht, sondern dass Menschen sich nur bei bei Wissen um die Gefahr schützen können / wollen, während sie ohne Wissen blind ins Verderben laufen müssen.
Dieses Wissen um eine Gefahr verbreitet sich in unserer heutigen international vernetzten Medienwelt natürlich rasend schnell; praktisch in Echtzeit wissen wir, was am anderen Ende der Welt oder in irgendeinem winzigen Ort passiert, während diese Informationen früher nur durch Reisende mit tage- oder gar wochenlanger Verzögerung von einer Region zur anderen getragen werden konnten.
Aber angekommen ist das Wissen früher natürlich auch! Das wäre bei Corona aber wohl erst der Fall gewesen, wenn in einer Region eine massive Häufung von Todesfällen unter Alten, aber auch ungewöhnliche Todesfälle bei Jüngeren, aufgetreten wären. Dann wäre aufgefallen, hier ist irgendwas nicht in Ordnung bzw. jetzt ist das, von dem der Reisende letztens berichtet hat, auch hier angekommen.
Und wenn das Wissen einmal da ist, ist es natürlich der oberste Instinkt von Menschen, sich durch Rückzug zu schützen. Und zwar auch bzw. gerade wenn man nicht genau versteht, welche Aktivitäten gefährlich sind, denn dann vermeidet man lieber alles, was Kontakt mit anderen Menschen (und somit potenziell Erkrankten) bedeutet.
In dem Podcast beim MDR hat der Virologe/Epidemiologe Prof. Kekulé mal erläutert, dass man sogar bei Tieren, also ganz ohne rationales Verständnnis über Krankheiten / Gefahren, beobachten kann, dass sie sich zurückziehen, wenn sich eine Seuche verbreitet.
Natürlich gibt es auch Menschen, die anders reagieren. Die sich unverwundbar fühlen, effektiv verdrängen / verharmlosen, oder ganz bewusst den "Tanz auf dem Vulkan" suchen. ("Narziss und Goldmund" gesehen? Pest-Episode?
)
Zu keinem Zeitpunkt habe ich dann gefragt: wer hat mich angesteckt? War es vielleicht der keuchende Mann zwei Reihen hinter mit im Kino letzte Woche? Oder war es der ständig ausschnupfende Mann am Nachbartisch im Restaurant von drei Tagen? Oder die niesende Frau, die vorgestern in der U-Bahn mir gegenübersaß?
Ich denke durchaus darüber nach, wenn ich eine Erkältung habe, wo ich die mir eingefangen haben könnte. (Ich schreibe bewusst nur Erkältung, weil ich in der Tat seit Jahrzehnten keinen Atemwegsinfekt hatte, der schlimmer als "nervend" gewesen wäre. *klopf-auf-Holz*)
Beispielsweise habe ich in meiner Studentenzeit, als ich zumindest ein Mal im Jahr noch auf eine größere Party gegangen bin, die das zentrale gesellschaftliche Ereignis in meinem Fachbereich war, beobachtet, dass ich nach diesem Abend, an dem ich mich stundenlang dicht an dicht unter Menschen in schlechter, verqualmter Luft (ja, damals war das Rauchen sogar in Uni-Räumlichkeiten noch erlaubt...) aufgehalten und mich aufgrund der lauten Musik brüllend und oft Mund-an-Ohr unterhalten habe, fast immer krank wurde. Ich habe dieses Super-Spreading-Ereignis also als Auslöser erkannt, bevor mir der Begriff überhaupt etwas gesagt hat.
Ein weiteres Beispiel ist die Nutzung des völlig überfüllten Skibusses im Urlaub, wo man von Triefnasen umgeben ist (ich nutze den ÖPNV ansonsten eher selten). Oder der hustende Kollege, mit dem man in Besprechungen saß.
Einem Kinobesuch hätte ich zugegebenermaßen keine besondere Ansteckungsgefahr zugeordnet und ihn höchstens dann mit einer danach aufgetretenen Erkältung in Verbindung gebracht, wenn in meiner unmittelbaren Nähe jemand ständig herumgehustet und/oder -gerotzt hätte.
Aber ich habe eben auch erst vor ein paar Wochen gelernt / verstanden, was Aerosolinfektion bedeutet. Bis dahin bin ich davon ausgegangen, dass man sich dafür schon mindestens direkt im Ausatemstrom des Virusverbreiters aufhalten muss. Dass es (jedenfalls bei Sars-CoV-2) grundsätzlich möglich ist, dass sich ein infektiöses Aerosol bei längerem Aufenthalt einer erkrankten Person in einem Raum so anreichert, dass man sich anstecken kann, wenn man nur diese Raumluft einatmet, ohne dieser Person je näher gekommen zu sein - vielleicht sogar, ohne sich gleichzeitig in diesem Raum aufgehalten zu haben - war mir neu und hat die Karten natürlich komplett neu gemischt!
Wenn wir DA nicht wieder hinkommen, dann wird es ein heftiges Beben in der Kulturlandschaft geben.
Ich sag ja gar nicht, dass wir da nicht wieder hinkommen. Aber es ist ein längerer Prozess, der sich nicht erzwingen und auch kaum bis nicht beschleunigen lässt, weil er neben der durch Impfung und bessere Therapiemöglichkeiten objektiv verringerten Gefahr, sich anzustecken bzw. schwer zu erkranken / zu sterben auch von der subjektiven "Gewöhnung" an diese Gefahr abhängt, und das passiert nicht in wenigen Wochen oder Monaten, schon gar nicht, so lange es immer wieder neue Erkenntnisse über das Virus und die Krankheit gibt, die wieder auf's Neue für Verunsicherung sorgen.
Übrigens bin ich mir nicht sicher, ob Du meine "ketzerische Frage" richtig interpretiert hast. Ich wollte damit sagen: Es ist doch egal, ob die Sicherheit durch eine Impfung echt und 100 % oder nur scheinbar und anteilig ist. Solange die Leute sich geimpft sicher genug fühlen, um wieder ins Kino zu gehen, ist doch alles gut.
Arthur A. hat geschrieben: ↑Freitag 19. Juni 2020, 01:14
Ich habe mal testweise einen zweistündigen Film in Maske verbracht. Zu meiner Überraschung war es gar kein Problem.
Das denke ich auch. Ruhig sitzend und bei kühlen, vielleicht sogar Eisschrank-Temperaturen, wie offenbar in einigen Kinos mit Klimaanlage auf Volllast, dürfte man die einfachen Masken kaum merken.
Arthur A. hat geschrieben: ↑Freitag 19. Juni 2020, 01:35
Auch als großer Kino-Liebhaber, finde ich die Wünsche für das Zugrundegehen von Netflix und co einfach FEHLGELEITET. Diesen Diensten haben wir zu verdanken, dass Filme wie The Irishman oder Spike Lees Da 5 Bloods finanziert werden. Niemand sonst gibt Auteuren so viel Geld UND Freiheit.
Die Diskussion hier jetzt auch noch aufzumachen, würde für den Wochenthread wohl wirklich zu weit führen...
Kurz zusammengefasst störe ich mich dabei noch an der Verfügbarkeit (nur über Netflix – und wenn es die mal nicht mehr gibt oder sie entscheiden, einen Film rauszunehmen?). Außerdem denke ich, dass diese extrem aufwändige Förderung von künstlerischen Produktionen nicht nachhaltig (gedacht) ist. Wenn es nicht genug Neuabonnenten gibt, wird dieses Konzept fallengelassen wie eine heiße Kartoffe.
Lativ hat geschrieben: ↑Freitag 19. Juni 2020, 03:03
Heute kennen die Leute und insbesondere die bemitleidenswerte Jugend doch nur noch ihr Handy, hier und überall und ganz schlimm ist die eigens Finanzierte Wanze von Amazon, google und co.
Haha, ja, ich dachte irgendwann während der Pandemie, als es hieß, die armen Jugendlichen müssen endlich wieder raus und zu ihren Freunden dürfen: Die sitzen dann doch sowieso nur nebeneinander und kommunizieren über ihre Smartphones, das können sie genausogut weiter auf Distanz tun.
Mara