Sorry, hat etwas länger gedauert mit der Antwort...
Taipan hat geschrieben: ↑Donnerstag 28. Januar 2021, 06:54
Dadurch, dass ein Film nicht dazu verdammt ist, direkt Einnahmen zu generieren und somit nicht floppen kann, ergibt sich die Möglichkeit mehr auszuprobieren.
Das halte ich für einen Trugschluss. Natürlich kann ein Film im Streaming nicht in dem Sinne floppen, dass er nicht genug Einnahmen generiert, weil der einzelne Film gar keine direkten Einnahmen generiert. Man wird aber mit Sicherheit sehr genau ein Auge darauf haben, was wie oft gesehen wird und insbesondere, was Neu-Abonnenten anzieht (oder was Bestands-Abonnenten zu Zuzahlungen bewegt), und danach entscheiden, was erfolgreich ist und weiter finanziert wird und was eben nicht.
Es herrscht im Moment natürlich schon eine Art Goldgräber-Stimmung, von der ich aber nicht glaube, dass sie nachhaltig ist und somit anhalten kann und wird. Ich denke, es wird derzeit ordentlich zugebuttert, man übernimmt sich bewusst. Streaming ist gerade in der zweiten Phase einer Entwicklung, wie sie typisch für ein neues Medium ist: In der ersten Phase läuft es wie von selbst, weil automatisch Konsumenten zuströmen, denen die althergebrachten Medien nichts mehr bieten können. In der zweiten Phase geht es dann darum, zum einen diese Erst-Kunden zu halten, indem man ihnen mehr von dem bietet, was ihnen bisher gefallen hat. Zum anderen aber auch in direkte Konkurrenz zu den alten Medien zu treten, indem man neue Vorstöße in die Interessensbereiche von deren bisherigen Konsumenten macht (also beispielsweise anspruchsvolle, preisverdächtige Eigentlich-Kino-Filme herausbringt).
Deswegen wird derzeit viel experimentiert, aber nicht aus altruistischen Gründen, nicht um die Kunst und die Vielfalt zu fördern und Projekten eine Chance zu geben, für die die "knauserigen" Alt-Medien keine Mittel übrighaben. Sondern um auszuloten, wo noch etwas herauszukitzeln ist.
Sobald sich das konsolidiert hat, eine Sättigung eingetreten ist und noch dazu der Kuchen unter einer deutlich gewachsenen Zahl von Anbietern aufgeteilt werden muss, wird es nicht mehr möglich sein, mit dem Geld so um sich zu werfen. Man wird dann erheblich herunterfahren müssen, genauso "knauserig" werden wie die Etablierten und dabei vorwiegend auf bewährte Pferde setzen, von denen man weiß, dass sie die Abonnenten zumindest halten.
Es kann ja schon rechnerisch gar nicht hinkommen, dass bei Streaming so extrem viel mehr Geld zur Verfügung steht als bei Kino, insbesondere, wenn man es in Relation zur Produktionsminute setzt. Schließlich kann der Kunde für einen Monats-Abo-Preis, der im Bereich oder unter dem durchschnittlichen Kinoticketpreis liegt, tausende Stunden Material ansehen (und erwartet auch, dass ihm monatlich umfangreich Neuheiten angeboten werden), während es beim Kinobesuch nur 90-120 Minuten sind. Selbst wenn man verrechnet, dass bei Kino Zusatzkosten für Infrastruktur, Werbung und "Zwischenhändler" anfallen, die beim Streaming allesamt nicht nötig sind, sollte sich das letztlich in etwa ausgleichen.
arni75 hat geschrieben: ↑Donnerstag 28. Januar 2021, 08:22
Zugpferde sind sehr schwer zu generieren, wenn die Interessen und Kanäle so zahlreich sind. Der „Gassenhauer“ war nur möglich, weil die Leute damals nur 1-2 Sender empfangen konnten, die Quoten von „Wetten Dass“ schafft heute höchstens ein Live-Event mit nationalem Charakter (WMFinale mit dt. Beteiligung) oder ein Phänomen wie „Titanic“ oder Avatar“, welche ist nicht als Franchise bezeichnen würde. Die Streamer produzieren auch viele tolle Inhalte, nur können diese niemals so eine Verbreitung in kurzer Zeit erreichen, da die Konkurrenz und Marktaufteilung viel zu hoch ist.
Genau das meinte ich mit der verkürzten Formulierung "individualistisch-verzweigt". Die Frage ist halt, wie wird sich das auswirken, wenn erst einmal eine Generation mit diesem System aufgewachsen ist. Wenn nicht mehr gezehrt werden kann von den Effekten der "Beschränkung" und erzwungenen Gleichzeitigkeit, die Kino und das lineare Fernsehen (selbst noch in Zeiten mit Dutzenden Privatsendern) mit sich bringen und so dazu führen, dass sich die Aufmerksamkeit fokussiert und daraus eben allgemein bekannte und beliebte Stars und Marken entstehen können.
Werden sich andere Wege der Kundengewinnung und Kundenbindung finden oder wird das System implodieren, weil auf der "quasi-individuellen" Ebene, auf der konsumiert wird, irgendwann überhaupt keine Finanzierungen mehr möglich sind?
Immerhin interessant, wie ich auch im Golden Globe-Thread geschrieben habe: Der an Netflix verkaufte "Neues aus der Welt" bekommt in Deutschland Autokino-Vorstellungen.

Ein kleiner Testballon, ob eine Parallel-Existenz funktionieren kann.
Mara
2023: 50 x, 364 €, TOP: Was man von hier aus sehen kann, Close, Sonne und Beton, Die Aussprache, Das Lehrerzimmer, The Whale, Divertimento, One for the Road, Anatomie eines Falls, Dogman